Lostetter, Marina – Die Reise (Noumenon #1)

Die Reise by Irene Holicki, Marina J. LostetterBuchdetails

  • Erinnert an: Der Marsianer, Der Astronaut
  • Genre: Science-Fiction
  • Erscheinungsdatum: 2019
  • Verlag: Heyne
  • ISBN: 9783453318274
  • E-Book 544 Seiten
  • Sprache: Deutsch
  • Triggerwarnungen: Massiver Ableismus, Eugenik, Euthanasie, Sklaverei, Suizid, Depression, Polizeigewalt, Mord
  • Positiv anzumerken: Vielfältige kulturelle Herkunft der Charaktere

Inhalt: 

Ein junger Doktorand entdeckt einen Stern, dessen Licht sich merkwürdig verhält. Es flackert, als würde etwas den Stern umschließen, aber an manchen Stellen noch Licht durchlassen.

Und da die Erde eh dabei ist, die ersten interstellaren Missionen zu planen, beschließt man, eine Mission zu diesem Stern zu schicken, um zu schauen, was wohl dahinter steckt.

Dabei wird beschlossen, dass man etwa 15.000 Menschen schickt, die besonders gut in bestimmten Gebieten sind – nur, dass sie gar nicht selbst fliegen, sondern nur dafür gezüchtete Klone von ihnen. Und die folgenden Generationen? Tja, die werden auch nur geklont.

 

Aufbau:

Die Mission umschließt 200 Jahre Schiffszeit (und 2000 Jahre Erdzeit, dank Zeitdilatation), und jedes Kapitel ist wieder mal nur wenige, oft mindestens 20 Jahre später angesiedelt und fast immer ist ein neuer Charakter die Perspektivfiur.

 

Charaktere: 

Der einzige Charakter, der sich tatsächlich durchs Buch zieht, ist die KI des Konvois, die nur K.I.C. heißt. K.I.C. lernt immer mehr darüber, wie man mit Menschen interagiert, wie sie fühlen und lernt dabei auch selbst, zu fühlen und sogar schöpferisch tätig zu werden. Allerdings wird die Frage, ob eine KI irgendwann als eigenständige Lebensform gilt oder gar Rechte bekommt, nie auch nur angekratzt.

Ansonsten gibt es ein paar Figuren, die ein Kapitel lang wichtig sind, aber schon im nächsten Kapitel treten andere Klone mit selbem Namen, selbem Beruf, aber anderem Charakter auf.

 

Meinung:

Während der Stil wirklich angenehm zu lesen ist, strotzt das Buch nur so vor Logikfehlern, Problemen und Dingen, die – so gesellschaftskritisch das Buch teils auch daher kommt – nie hinterfragt werden.

Beginnen wir mit dem, was mir gleich als Erstes auffiel – und das so richtig übel: Das ganze Buch baut auf heftigem Ableismus auf.

Oh, man möchte Vielfalt, man hat verschiedene Sexualitäten (komischerweise aber keinen trans oder nicht-binären Charakter), und natürlich kommen die Charaktere aus allen Regionen der Welt.

Aber Behinderungen werden sofort ausgeschlossen. Nein, die will man auf keinen Fall haben. Spannend, dass bei 15.000 Expert*innen in ihren Gebieten, einschließlich Wissenschaft und Co, nicht eine einzige behinderte Person dann eigentlich die bessere Wahl, fachlich gesehen, gewesen wäre. Offenbar gibt es in der Denkweise der Autorin schlicht keine Behinderten, die irgendwas beitragen können?

Ab dieser Stelle kommen richtige Spoiler.

Aber nicht nur das. Die Klone, die die Schiffe bedienen und bevölkern, scheiden auch vorzeitig aus dem Leben aus. Sie werden in einem bestimmten Alter einfach umgebracht – beziehungsweise lassen sich freiwillig umbringen, weil alles andere ja Illoyalität gegenüber der Mission sei und damit das schlimmste Verbrechen.

Schlimm genug, aber wer vorher einen Unfall hat und deshalb eine chronische Verletzung bleibt? Wird auch umgebracht. Oh, und wenn eine richtige Erkrankung auftritt, dann wird zwischenzeitlich sogar die gesamte Genlinie stillgelegt. Und das wird als rational und völlig natürlich und überhaupt nicht zu hinterfragen dargestellt. Behinderte töten ist halt okay, ne? Grrr.

(Später, als billige Arbeitskräfte in einem Arbeitslager gebraucht werden, werden dann aber alle ehemals eingestellten Linien nachgezüchtet. Und da werden sie ALLE als Sprösslinge von Verbrecherlinien bezeichnet werden, selbst derjenige, dessen Linie nur stillgelegt wurde, weil er ein Aneurysma hatte! WTF?)

Insgesamt werden die Leute nur danach beurteilt, wie viel sie der Gemeinschaft bringen können. Bei 15.000 Leuten (wobei die Zahl im Buch schwankt, am Anfang wird noch von 100.000 gesprochen), wo eine so hohe Zahl deshalb gewählt wurde, weil sie für den Zusammenhalt und die Psyche besser sei, und NICHT, weil so viele Leute tatsächlich für die Mission nötig wären. Neben dem einen Rebellen, der nur das Trauma hatte, dass sein Zieh-Opa ausgeschieden ist – also getötet wurde -, ist die einzige Kritik an dem ganzen System nur, „dass man nicht jeden letzten Tropfen Produktivität aus den Leuten rausquetscht, bevor sie ausscheiden“. Die werden wortwörtlich nur geboren, um zu arbeiten und sie bedauern nur, dass sie nicht noch etwas mehr arbeiten können. Die ganze Gesellschaft liest sich wie der feuchte Traum eines Turbo-Kapitalisten.


Hier muss ich mal einen kurzen Exkurs machen:

Ich finde es verständlich, wenn bei solchen Missionen überlegt wird, ob und in welchem Rahmen man Behinderte mit in die Mannschaft einbinden kann. Ich finde es nicht gut, wenn Behinderte ausgeschlossen werden, oder nur die Arten Behinderung einbezogen werden, die sich nicht auf die Leistung auswirken oder leicht mit Hilfsmitteln zu kompensieren sind, aber kann es in Teilen nachvollziehen. Dann muss aber bitte auch im Text vorkommen, dass das durchaus ableistisch ist, und man sich dessen bewusst ist. Hier wird es aber als etwas völlig Natürliches dargestellt, dass Behinderte schon auf der Erde nicht als passend erachtet werden, und später sogar noch bewusst umgebracht werden.


Aber nein, das war nur die Spitze des Eisbergs. Es geht schon damit los, dass sie mit einem Konvoi von neun Schiffen fliegen, wo jedes Schiff auf etwas spezialisiert ist. Obwohl bei einem anderen Konvoi schon ein Schiff beim Start explodiert ist. Es gibt keinerlei Redundanz. Ein noch so kleines Unglück und ihnen könnten alle Labore, oder die gesamte Lebensmittelproduktion, oder aber alle Wohnquartiere wegbrechen.

Und dann die Klone. Okay, dass sie keine Wahl haben, außer, ihr Leben in den Schiffen zu verbringen, das Problem hat man in jeder Art Generationenschiff. Dass ihnen anerzogen wird, dass sie sich selbst zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben töten lassen müssen – Selbstmord wiederum in späteren Generationen aber ein Verbrechen ist -, geschenkt. Aber der Gedanke, dass die Klone, nur, weil sie eben Klone sind, in den selben Berufen gut sein müssen, wie ihre Vorgänger*innen? Vergessen wir Nature vs. Nurture und nehmen mal an, dass das möglich wäre. Aber warum verlieben sie sich dann in andere Leute als die vorigen und späteren Klone derselben Person, und haben völlig andere Charaktere? Sie sind also andere Personen, es gibt Variationen, aber ganz magisch bleibt ausgerechnet das, wofür sie sich interessieren, und worin sie besonders gut sind, gleich?

Dann die Mission selbst. Sie wissen, dass sie 2000 Jahre Erdzeit unterwegs sind und dennoch hat sich niemand VOR Start überlegt, was das bedeutet, wenn sie zurückkommen? Himmel, vor 2000 Jahren war Europa noch mitten im römischen Reich. Vor 2000 Jahren war Cleopatra erst 50 Jahre tot. Historiker*innen bemängeln sogar fehlende Informationen für die letzten paar vergangenen Jahrhunderte. Und die denken wirklich, dass sie mal eben 2000 Jahre unterwegs sind, und dann wirklich wer auf dem Planeten überhaupt noch was von ihnen weiß, geschweige denn auf sie wartet? Dass sich die Erde nicht weiterentwickelt oder vielleicht ausgelöscht hat? All das haben sie nicht vor dem Start wenigstens mal bedacht, irgendwie mit in die Mission eingebaut, Anweisungen dafür gegeben?

Und dann haben wir zwar sexuelle (und romantische) Partnerschaften, aber, ohne dass erklärt wird, warum, keine daraus entstehenden Kinder. (Aber unfruchtbar sind sie nicht, nach 200 Jahren kriegen sie dann nämlich plötzlich doch welche.) (Hier habe ich, auf der Suche nach anderen Rezensionen, gelesen, dass das im Buch sehr wohl vorgekommen sei und frage mich, ob der Verlag das nachträglich aus dem Buch gearbeitet hat? Denn ich hatte danach bewusst gesucht, weil mir das so unlogisch vorkam, und ich bin weder an Szenen mit Hormonen im Essen, noch mit vermuteter Schwangerschaft gekommen, von denen ich bei anderen Bloggenden lese. Aber bei meinem Glück liegt das mal wieder an der Verbindung von Skoobe und Tolino – auch, wenn die normalerweise nur dann Text verschluckt, wenn Bilder darin vorkommen, also besonders gern bei Gartenratgebern.)

Hinzu kommt, dass oft die Kapitel genau da abbrechen, wo es interessant wird. Die ersten Selbstmorde, jetzt müssen sie einen Weg finden, die Moral zu heben. Sprung zu 20+ Jahren später, wo das geklappt hat. Und danach immer wieder das gleiche Muster. Für einen Roman, der so fokussiert auf die Gesellschaft und den Wandel im politischen und sozialen System auf den Schiffen ist, werden die Kipppunkte immer nur angerissen, um sie dann im nächsten Kapitel dann kurz in drei Sätzen abzufrühstücken und den nächsten Ist-Zustand zu zeigen. Nie, wie man von A nach B kam.

Da kann der Stil noch so gut lesbar sein, man kann die KI noch so nett finden, wenn der ganze Aufbau keinen Sinn ergibt, immer wieder abrupt abbricht, oder schlimmer noch, zwar viel Gesellschaftskritik vorkommt, aber Euthanasie, das Auslöschen von Behinderten, und dieser zutiefst in der Gesellschaft verankerte Gedanke von Menschen nur als Ressourcen, ohne Rente oder auch nur den Hauch einer Freiheit, je kritisiert werden. Im Gegenteil, schlussendlich sollen wir ihre Gesellschaft sogar gut finden, mit ihnen mitfiebern.

Und mein letzter Kritikpunkt, der aber nicht der Autorin selbst anzulasten ist: Am Buch selbst ist nicht erkenntlich, dass das nur Band 1 einer Reihe ist, obwohl zur Veröffentlichung in den USA schon Band 2 draußen war. Aber immerhin endet der Roman nicht mit einem Cliffhanger, kann also halbwegs als Einzelband gelesen werden.

 

Fazit: 

Unlogisch, und leider im Endeffekt Ableismus, Euthanasie und ein beinahe schon totalitär anmutendes Leistungsdenken verherrlichend – aber mit lesbarem Stil und netter KI

Zwei goldene und drei silberne Sterne, die zwei von fünf Sternen symbolisieren

 

Meinungen anderer Blogger: 

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Aber es gab eine Blogtour, die sich angeschaut hat, wie realistisch das Ganze ist. Unter anderem bei Crow and Kraken findet ihr dazu mehr Informationen.

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